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Psychopathie


Das menschliche Verhalten wird nicht wie bei Tieren von Instinkten und Automatismen bestimmt, wobei die höheren Säugetiere, besonders die domestizierten auch schon sehr lernfähig sind.

Das menschliche Verhalten wird hauptsächlich vom Bewußtsein gesteuert und dieses wird in der Entwicklung von der sozialen und kulturellen Umwelt aufgebaut.

Natürlich gibt es den großen Bereich des Unterbewußtseins, den manche den angeborenen Instinkten zuorden, andere aber als verdeckte Programmierung aus dem Kleinkindalter betrachten, die auch mit speziellen psychoanalytischen Techniken ins Bewußtsein geholt und sogar in allerdings langwierigen Prozessen abgeändert werden kann.

Ob es beim Menschen einen Bereich rein animalischer Instinkte gibt und wie groß dieser ist, wird immer ein Diskussionsthema sein. Auf jeden Fall ist unbestreitbar, daß viele Menschen entgegen ihren bewußten Motiven handeln und andererseits kulturell vermittelte Vorstellungen instinktive Selbsterhaltungstriebe außer Kraft setzen können.

Psychopathien sind jedenfalls, neben emotionalen Defiziten und körperlichen Manifestationen, eine Fehlsteuerung im Verhaltensapparat des Menschen, ob bewußt, unterbewußt oder instinktiv. Der Fehler kann in der Wahrnehmung der Umwelt und der eigenen Person oder im Reagieren liegen. Was als Fehlsteuerung angesehen wird ist allerdings, neben den Erfordernissen und Möglichkeiten einer Situation, auch von der Weltanschauung und von gesellschaftlichen Gruppeninteressen wie Politik, Religion und Moral abhängig. Eine unumstrittene Grenze sollte in aufgeklärten, humanen Gesellschaften existenziell selbst- oder fremdschädigendes Verhalten sein.

Warum aber kommen solche Schädigungen der Antriebskraft mit destruktiv verlaufender emotionaler und ethischer Programmierung zustande, die für das betroffene Individuum sowie seine nähere, oft auch sehr weite soziale Umwelt sehr schmerzhaft, hinderlich und oft lethal sind:

Schizoidität, Depression, Sadismus, Masochismus, Hysterie, Dissozialität und hunderte weitere größere oder kleinere Ängste und Verwirrungen, die nicht durch hirnorganische Erkrankungen ausgelöst wurden.

Rein technisch ist klar, daß das Verhalten und die Pflege der elterlichen Bezugspersonen, besonders im Kleinkindalter dafür verantwortlich sind. Selbst-gestörte Personen verursachen Störungen bei ihren Kindern, gesellschaftlich akzeptiertes oder gefordertes problematisches Erziehunsverhalten, Normen und Ziele können großflächig Schaden verursachen.

Manche machen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse mit entsprechender offener oder subtiler Unterdrückung weiter Schichten dafür verantwortlich, andere vertreten grundsätzlich pessimistische Philosophien über die Beschaffenheit und Funktionsfähigkeit der Menschheit. In Krisenzeiten droht immer wieder das unbarmherzige Vorbild der Natur.

Daß bei einem so komplexen Organ wie dem Gehirn, der organischen Basis des Bewußtseins Krankheiten auftreten können wie bei jedem anderen Organ ist sebstverständlich, daß aber „nur“ durch sozial und kulturell vermittelte Einflüsse auf der mentalen Ebene Individuen derart gestört werden können, daß sie lebensunfähig oder lebensbedrohlich werden, ist doch erstaunlich. Wenn man allerdings bedenkt, daß diese mentale Dimension die Menschen in ihrem Vermögen weit über alle Mitnatur geführt hat, ist es vielleicht kein Wunder, daß ein so komplexer Apparat auch verwirrt oder destruktiv werden kann.

Organisches Leben wird von Eizelle und Spermium aus durch die jeweils neu gemischte genetische Erbinformation in Wachstum, Ausformung und Funktion bestimmt. Diese Erbinformation in den DNS-Strängen ist äußerst umfangreich und komplex auch in ihren inneren Interaktionen, es gibt aktive und nicht aktive Teile und in ihr ist die Abfolge früherer „niedrigerer“ Lebensformen archiviert, die der Embryo in seiner Entwicklung auch teilweise durchläuft. Ebenso komplex ist die mentale Entwicklung, die man sich analog zu den Genen durch“Meme“ gesteuert vorstellen kann. Viele Meme, kleinste Einheiten der gedanklichen Vorstellung summieren sich und interagieren, um das Bewußtsein und die Handlungsfähigkeit einer Person zu bilden.

Nun werden aber Meme nicht nur einmal vor Beginn des Lebens eines Individuums ausgetauscht und zusammengestellt, sondern während des ganzen Lebens, besonders nach Erlernung der kulturellen Techniken des Sprechens und Schreibens. Dadurch sind sie weit beweglicher und expansiver. Darum hat sich auch die kulturelle Entwicklung der Menschheit im Vergleich zur biologischen, vom Beginn des Lebens auf der Erde an, in explosionsartig kurzer Zeit und gewaltiger Potenz ereignet.

Im „Memom“, dem mentalen Genom des Menschen gibt es nun auch die verschiedenen Abschnitte, die in den durchlaufenen, ökonomisch initiierten, kulturellen Entwicklungsstufen entstanden sind: Dem unermeßlich langen Zeitraum des Sammelns und Jagens, der Zeit von Ackerbau und Viehzucht und der neueren von Maschienen, Motoren und Computern.

  • Sie beinhalten das jahreszeitlich bestimmte Umherziehen in kleinen Gruppen, Wissen über Essbares, Giftiges und Heilendes. Geheime Fundplätze, Gewohnheiten der Tiere, das Auflauern, Hetzen, Töten und Verwerten. Jagdwaffen und Jagdzauber. Den Unterschlupf in wechselnden, primitiven Lagern.
  • Das Anbauen von Pflanzen, das Umgraben und Reinigen des Bodens, die Aussaat, Pflege und Bewachung des Feldes, die Ernte und die Lagerung. Die Nahrungssicherheit in der kalten, früheren Hungerzeit aber auch die Katastrophe einer Mißernte, schlechtes Wetter, Ungezieferfraß, Lagerschäden, Beraubung der Vorräte.
  • Das Zähmen und Hüten von Haustieren, die Nutzung ihrer Arbeitskraft und neuer Produkte wie Milch und Wolle. Die Zuchtwahl, das Kastrieren und die Schlachtung.
  • Das Zusammenleben in immer größeren Gemeinschaften in immer festeren Häusern und Dörfern. Das Entstehen von Machtzentren, zur Organisation der immer größeren und dichteren Siedlungsgebiete, der inneren Befriedung sowie äußeren Verteidigung. Der immer häufigere Kampf zwischen Menschen, der Bau von Gräben, Wällen und Burgen. Das Geheimnis von Sterben und Wiedergeburt des Samenkorns, die Ablösung der Herrschaft der Natur und ihrer Geister über die Menschen durch vergöttlichte Über-Menschen.
  • Das Zusammenwachsen der vorher getrennten Siedlungsräume, der wachsende Austausch an Waren und Ideen durch Handel, die dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen und schließlich die Idee des inneren Friedens in einem geeinten Imperium, das alle kriegerische Aggression an die Außengrenzen verschiebt und die dauernde Destruktion in Prosperität verwandelt.
  • Das immer tiefer gehende Analysieren der Umwelt und Konstruieren immer besserer Hilfsmittel und Methoden zur Produktion von Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie auch für Unterhaltung, Präsentation und Luxus.

Immer geht es um Beobachtung der Pflanzen, Tiere, Werkzeuge und Maschinen, um Auseinandersetzung, Handhabung und Identifikation.

Da zu den Bewußtseinsfunktionen nicht nur Wahrnehmen und Reflektieren sondern Neu-Kombinieren und auch Fantasieren gehört, ist ersichtlich, wie viele neuformierte Mem-Komplexe dauernd entstehen und, in entwicklungsgeschichtlich gesehen praktisch Nullzeit, ausgetauscht werden können. In diesem brodelnden Topf alter und neuer, passender und unpassender, originaler und neu interpretierter, seit Radio, TV und Internetzeiten noch schneller ausgetauschter Vorstellungen ist es nicht verwunderlich, wenn es zu Verwirrung und Desorientierung kommen kann, besonders wenn es keine stabilen sozialen Beziehungen und wirtschaftliche Sicherheit gibt. Natürlich ist es in der Mentalsphäre wie in der Biosphäre so, daß von den vielen Variationen, die dauernd neu entstehen sich nur wenige durchsetzen, die bei der aktuellen Problemlage optimale Lösungen bieten. Im Mentalbereich eben solche, die die vorgefundene natürliche und kulturelle Umwelt mit ihren Erscheinungen am schlüssigsten erklären und welche die beste Handhabe bieten, in ihr zu bestehen.


Viele Probleme werden trotz immer neuer Anläufe nicht gelöst. Obwohl menschliche Technik und Kultur so unendlich viel erreicht und bewirkt haben gilt eben doch der Rahmen der zugrunde liegenden Natur, daß es kein Leben ohne Tod, keine Gesundheit ohne Krankheit, keinen Frieden ohne Krieg und keine Kooperation ohne Betrug und Ausbeutung gibt. Auch in bester Absicht unterdrückte Aggressionen lassen Menschen verkümmern und ihre Emotionen pervertieren. Viele Kriege sind im Namen des Friedens und ähnlicher Ideale geführt worden.

Die Hoffnung auf Idealzustände ist nötig und förderlich, sie kann aber nicht die Grundlage einer Bewertung der Realität sein. Die meisten Psychopathien – mentale Schädigungen durch Gewalt, Entbehrungen oder Verwirrung - sind nicht heilbar, aber man kann sie durch Behandlung mindern. Fordert man umfassende paradiesische Verhältnisse, kann man nur immer, bestenfalls schwindende, Defizite beklagen, erkennt man die Natur mitsamt ihrer zerstörerischen Hälfte, kann man sich über Fortschritte freuen.

Warum es bei Menschen so viele (Angst-)Störungen gibt, daß manche Psychoanalyse-Forscher den mehr oder weniger massiven Defekt als Normalzustand und umfassende emotionale Gesundheit schon als Ausnahme und wichtigstes gesellschaftspolitisches Ziel ansehen hat vielleicht den Grund, daß bei Tieren das Verhalten weitestgehend eben durch festgelegte Instinkte gesteuert wird, somit auch ihr Umgang mit den berechtigten Ängsten vor Vernichtung und der Antrieb zu aggressiver Ernährung und Selbstbehauptung. Wogegen Menschen zwar durch ihre mentalen Fähigkeiten die Möglichkeit haben, weit über die Mitnatur hinausgehende, effektivere Techniken des Selbstschutzes und des Nahrungserwerbs in sich ständig steigernden Entwicklungsstufen auszubilden, diese aber in einem langwierigen Lernprozess erworben und mit einem dazu passenden funktionalen Weltbild verbunden und gefestigt werden müssen. Da neue Techniken immer wieder neue ökonomische Möglichkeiten schaffen, die Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben und das mentale Weltbild und Selbstbewußtsein zeitigen und somit auch oft zu gegensätzlichen Beurteilungen und Wertungen von Gegebenheiten führen, wird deutlich, daß dieser Lern- und Erziehungsprozess ein komplexer und oft widersprüchlicher Vorgang ist. Auch ein störungsanfälliger, da auf ihn Interessen jeweils weichender und kommender Strukturen einwirken, sowie der Zwang zu Effektivität und Konkurrenz, der allen Evolutionen innewohnt, ebenso wie die „Lust zur Variation“, quasi als Selbstzweck. Außerdem gilt auch im mentalen Bereich das Gesetz der zugrunde liegenden Natur, daß alles Leben–Organismen, Organisation, Struktur–ständig dem Angriff-Verdrängung, Schädigung, Einverleibung, Zersetzung-durch anderes Leben ausgesetzt ist. Außerdem müssen mit den jeweils entwickelten neuen Verhaltensanforderungen auch die emotonalen und energetischen Bedürfnisse der Individuen in Einklang gebracht werden können oder sie leiden darunter, werden geschädigt oder sperren sich dagegen.

Wenn also, aus den vielen dargelegten Gründen, im mentalen Bildungsprozess etwas schiefgeht, ist es kein Wunder und nur natürlich, daß die Betroffenen darauf mit Ängsten und Unsicherheit reagieren, die nur vordergründig irrational erscheinen. Diese Ängste lösen dann, verstärkt durch Schädigungen im Kleinkindalter, Depression, Aggression oder Selbstbetäubung durch Drogen aus, womit sich das ganze Spektrum der Psychopathien eröffnet. Möglicherweise sind diese vielen psychischen Schädigungen und Beeinträchtigungen, unter denen nicht nur einzelne Individuen leiden, sondern durch die auch gesamtgesellschaftliche Konflikte ausgelöst werden, der Preis für den enormen evolutionären Erfolg der menschlichen Spezies.

Bernhard Greiner, 2015