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"Mutter" Natur


In romantischen Bewegungen, die anscheinend immer zu Zeiten rapiden technischen Fortschritts anwachsen, wird die Natur – Erde, Pflanzen und Tiere – als heile Welt und heilende Kraft verehrt
und dem gegenüber menschliche Technik sowie daraus folgende Eingriffe und Strukturen materieller, sozialer und geistiger Art abgelehnt.
Meist wird dabei Natur mit Friede, Harmonie und Intuition dem weiblichen Bereich zugewiesen, technischer Fortschritt, rationales Denken, Zivilisation, Herrschaft und Krieg dem männlichen, als verderblich beurteilten Prinzip, angelastet.
Viele glauben, eine Rückwendung zur Natur – natürliche Ernährung, Naturmedizin, natürliche Baustoffe und Textilien sowie natürliche Gefühlsäußerungen und zwischenmenschliche Beziehungen – würde die modernen Probleme wie Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, Zivilisationskrankheiten, psychische Probleme, politischen Streit und Krieg lösen, besonders wenn sie mit einer Befreiung von männlicher Vorherrschaft und Hinwendung zu oder sogar künftigen Dominanz weiblicher Wesenheit verbunden wäre.


Was aber ist die Natur anderes als ein großer Kreislauf von „Fressen und Gefressen werden“?
Konkurrenz um Sonnenlicht, Kampf um die besten Standorte, Giftkrieg gegen Nachbarn und (Fress-)Feinde, Eliminierung der Schwachen und Kranken, Überlistung der Dummen und allenthalben Unterdrückung, Ausbeutung, Mord und Totschlag zwecks eigenem Fortkommen.
Und was ist der Mensch anderes als ein Produkt dieser Natur?
Allerdings das höchstentwickelte und mit Hilfe seines Gehirns aus der biologischen in eine neue, mentale Sphäre des Bewußtseins und der Kulturbildung vorstoßend.
Auch Pflanzen und Tiere haben unzählige Techniken des Lebens und Überlebens entwickelt;
Insekten können Staaten bilden, Ameisen sogar Landwirtschaft und Viehzucht betreiben und manche ebenso ihre Umwelt verseuchen oder ihre eigene Nahrungsgrundlage zerstören.


Der Mensch kann das alles nur viel besser und schneller, weil er nicht mehr nur von der genetischen Evolution, die in Jahrtausenden bis Jahrmillionen voranschreitet, weiterentwickelt wird, sondern durch sein hochentwickeltes Ganglienzentrum unabhängig vom Fortpflanzungszyklus in vergleichsweise Nullzeit Erkennen, Denken, Kommunizieren, Lernen, Reflektieren und Optimieren kann, sowie durch seine Hand, verbunden mit wechselbaren Werkzeugen, das vielseitigste Lebewesen überhaupt ist.
Sollte Kultur, besonders abseits von Technik und Wissenschaft etwas unnatürliches sein?
Die meisten Bewußtseinsinhalte dienen doch der Wahrnehmung der Umwelt, der sozialen Gebilde sowie der eigenen Person und der Orientierung und dem Funktionieren in diesen komplexen, sich dauernd wandelnden Sphären. Sehr „natürliche“ Lebensfunktionen in dieser mentalen Sphäre.


Bleibt die Erkenntnis seines Selbst und des Todes, Anfang und Ende nicht nur der eigenen Person. Sollte sie von einer außerweltlichen, übernatürlichen Instanz „eingehaucht“ sein, wie in religiösen Vorstellungen formuliert?


Bei dem, was als Natur bezeichnet wird muß man auch unterscheiden zwischen dem Kosmos, unserem Planeten Erde, dessen Geologie mit ihren Funktionen wie Witterung und Jahreszeiten und dem Lebendigen darin: Das Pulsierende, Wachsende, Stoffwechselnde und sich Fortpflanzende; der, von den kleinsten Teilen in einer Zelle den ganzen Pfad der Evolution entlang entstandene, oft großenteils wieder ausgestorbene, sich immer weiterentwickelnde Strom der vielfältigsten Lebewesen.
Der Kosmos ist definitiv nicht lebensfreundlich. Das Leben mußte sich gegen seine zerstörerischen Kräfte – Hitze, Kälte, Strahlung – durchsetzen, sich in unendlichen Zeiträumen eine Nische schaffen, um sich dann, gefestigt und durch eine selbst erzeugte Athmosphäre geschützt, ausbreiten und entwickeln zu können. Durch geologische Katastrophen wie Meteoriten und Vulkanausbrüche, wurde das Leben auch immer wieder bedroht und ganze Gruppen, einige Male der Großteil der Lebewesen wieder ausgerottet(„big five“). Auch die Menschheit war schon manchmal knapp am Aussterben und einige frühere Entwicklungslinien sind auch restlos versiegt(Homo erectus, Neandertaler).
Unser Planet, von dem ja auch nur Teile bewohnbar sind, ist außerdem, trotz intensiver Forschung, noch immer der einzig bekannte mit Leben.


Und dieses Leben, dessen Entstehung so unwahrscheinlich war, daß es die Forschung nur als Zufall in einem unendlich langen Zeitraum bezeichnen kann, ist ein Kreislauf von aufbauenden, verschlingenden und wieder zersetzenden Akteuren.
Ein Individuum ist in ihm nichts wert und ständig bedroht. Ein Einzelleben ist in Ihm schnell ausgelöscht; mehr Bestand haben Arten, solange nicht alle Mitglieder sterben, ohne sich vermehrt zu haben.
Das stabilste in ihm scheinen die Gene, die Erbinformation, zu sein, die von einem Körper zum nächsten sich in veränderlicher Zusammensetzung fortpflanzen und so scheinbar „ewig“ leben.
Doch sind auch sie nur das Programm, das die Erscheinungsform des Lebens festlegt, das an Hand der Auslese von der Evolution weiterentwickelt oder verworfen wird.
Wie ja auch die Buchstaben der Schrift nicht Inhalt des Schreibens sondern nur ihre Funktionsform sind oder Laute und Worte nur die Elemente des Redens, durch das Gedankeninhalte ausgedrückt und übermittelt werden können.


Möchte man wirtschaftliche, politische, soziale und psychische Probleme durch Orientierung an der Natur eindämmen oder lösen muß man eigentlich feststellen, daß diese Erscheinungen ganz natürlich sind, die zweite Seite der „Münze“ Natur, deren Vorderseite sicher schön, erfüllend, harmonisch, nährend und heilend ist.
Aggression, Unterdrückung, Zerstörung in sämtlichen Bereichen ist neben Kooperation, Entfaltung und Wachstum notwendigerweise mindestens die Hälfte des Kreislaufes Natur.
In neueren, computergestützten Forschungen der Sozialphysik konnte mit naturwissenschaftlichen Methoden auch dargestellt und nachgewiesen werden, daß Phänomene wie Ungleichverteilung, z.B. Armut, im selben exponentiellen Verhältnis in der Natur wie in menschlicher Gesellschaft vorkommen und in selber Dynamik immer wieder entstehen.(Pareto-Gesetz; M.Buchanan: Warum die Reichen immer reicher werden...)
Es wurde allerdings ebenso experimentell nachvollziehbar gemacht, wie an sich egoistische Teilnehmer bei gemeinsamen Unternehmungen trotzdem zu kooperativem Verhalten kommen können und damit besser fahren (Spieltheorie, „Gefangenendilemma“; R.Dawkins: Das egoistische Gen).


Um diesen Schattenseite der Natur zu entgehen, wurden neben technischen Fortschritten für bessere Ernährung und Schutz vor mikrobiellen, tierischen und menschlichen Feinden auch immer mehr mentale Konstrukte geschaffen: Kulte, Religion und Philosophie. Sie sollten, neben einer allgemeinen Orientierung Anleitung geben, wie besonders mit den schmerzhaften und zerstörerischen Erscheinungen umgegangen werden könne.
Stand am Anfang die Verehrung der übermächtigen (personifizierten)Naturgewalten und die Idee des lebenserhaltenden Opfers, so entwickelte sich später der Wunsch, sich von dieser zweischneidigen Natur zu emanzipieren, sich durch ihre Unterdrückung und Beherrschung oder bloße Distanzierung von ihren negativen Seiten zu befreien.
Klarerweise hat man durch Askese, Körperfeindlichkeit und Triebunterdrückung meist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, viel Verkrüppelung und Falschheit geschaffen oder zumindest die so gezähmte, gezüchtete Rest-Natur als unbefriedigend empfunden.
Höhepunkte dieser Versuche sind die naturfeindlichen monotheistischen Religionen mit ihren Vorstellungen eines allmächtigen, strafenden Vater-Gottes.


Ist also eine neue Dominanz befreiter Weiblichkeit eine Lösung der Probleme?
Sollte es jemals eine solche gegeben haben, dann sicher zu einer (Ur-)Zeit, in der Fruchtbarkeit, Kinderreichtum und Versorgung durch eine häusliche (Getreide-)Wirtschaft in einer dünnbesiedelten Welt die wesentlichen Existenzfaktoren waren.
In der heutigen Welt der Überbevölkerung und Ressourcenverknappung ist sicher, wie schon in den folgenden Phasen der Kulturentwicklung (Eisenzeit, Antike usw.), die Fähigkeit zur Konfliktlösung durch kriegerische Stärke, bei noch größerer Verdichtung durch Verhandlungsgeschick entscheidender. Das waren bisher Domänen des männlichen Teils der Gesellschaft.


Hilfreich ist wahrscheinlich der Einfluß von Menschen, die Unterdrückung und Leid erfahren haben und dadurch eher zu gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit finden, wenn sie nicht auf Rache sinnen.


Was übrigbleibt ist eine tiefgreifende Skepsis gegenüber der Natur, sowie ihrer naiven Verehrung wie auch den menschlichen(männlichen) Versuchen, durch Unterdrückung mit ihren Schattenseiten umzugehen.
Der Umgang mit den Problemen erfordert eine Bewußtwerdung der Hintergründe und ein ständig neues Balancieren zwischen dem Zulassen und Eindämmen Natur fördernder und Natur unterdrückender Regungen und Maßnahmen. Eine endgültige Lösung gibt es nicht.


Es bleibt auch das Wunder dieses Lebens in diesem feindlichen Kosmos sowie der Bewußtwerdung desselben im Menschen, sowie die Tatsache, daß der Mensch sich von den Zwängen der Natur befreien möchte.


Bernhard Greiner

November 2013