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Back to the roots!


„Zurück zu den Wurzeln“ war die Losung einer romantischen Jugendbewegung der 1980er Jahre verbunden mit der exotischen Raggae-Musik.
Dieses Ziel gilt anscheinend auch für viele Mitglieder von Reenactment-Gruppen in Amerika und Europa sowie Besuchern von Mittelalter- und Keltenfesten.
Ebenso gibt es in der modernen Kunst eine Hinwendung zu archaischer Plastik, naiver Malerei und Ethno-Musik.

Warum zurück? Warum so weit? Warum gar bis zum Anfang, zu den Wurzeln?

Bei einem Brettspiel ist das ein schwerer Rückschlag, wenn man zum Beispiel beim „Mensch ärgere dich nicht“ von einem Gegner geworfen wird und an den Start zurück muß.
Die Raggae-Fans, die als Ritter, Hofdamen, Bauern, Keltenkrieger/innen oder Ötzi`s Verkleideten und diese Kunstsammler oder –reproduzenten ärgern sich aber nicht, sondern haben eine Sehnsucht nach Vergangenem und Verlorenem.
Zurück muß und will man, wenn man sich verlaufen hat. Ist man in eine Sackgasse geraten, muß man mindestens bis zur letzten Abzweigung zurück, hat man überhaupt die Orientierung verloren, dann soweit zurück, bis einem die Gegend wieder bekannt vorkommt und vertraut ist. Bis zum Ausgangspunkt zurück geht man, wenn man nicht mehr weiß, wo man eigentlich hinwollte.
Es gibt also anscheinend viele Menschen, wohl eher in den Industrieländern, die das Gefühl haben, in eine Sackgasse geraten zu sein, sich in unbekanntem Gebiet verirrt zu haben oder überhaupt nicht mehr wissen, wohin sie eigentlich wollten.

Was sind den nun die Wurzeln eines Europäers?

Der Anfang aller Menschen liegt in der Natur; wie man inzwischen immer detailierter weiß, vom Primaten zum Homo sapiens, Steinzeitjäger, Ackerbauern und Städtegründer.
Da der Mensch ein durch sein Gehirn über die tierische Natur hinausreichendes Kulturwesen ist und sich seit der Steinzeit auch biologisch kaum weiterentwickelt hat, sind es hauptsächlich die kulturellen Entwicklungen, die seine Wurzeln, den weiteren Weg, Abzweigungen und die Unterschiede erzeugen.

  • Da wären also die Jäger und Sammlerinnen der Altsteinzeit, eingewandert aus Afrika über den nahen Osten, anfangs im Rythmus der Eiszeiten vorrückend und sich zurückziehend wie die Vegetation. Mit Feuer, Bekleidung, Steinwerkzeug, Speer, später Pfeil und Bogen. Jagdmagie, Fruchtbarkeit und Begräbnis.
  • Dann die ersten Bäuerinnen und ihre noch jagenden oder Vieh weidenden Männer, mit geschliffenen Steinwerkzeugen, Hake und Sichel, Keramikgefäßen und Webstoffen. Lange Holzbauten für die Lebenden und riesige Steinsetzungen in Linien, Kreisen und Grabmalen für die Toten. Anscheinend überwiegend Einheimische, die die neue, im nahen Osten erfundene Ernährungsgrundlage von dort sukzessive übernahmen.
  • Später die ersten Krieger aus den Weidegebieten des Ostens, die erkannten, dass man gut leben kann, wenn man produzierende Bauern ihrer Vorräte beraubt; mit Streitäxten, nur zum Töten geeignet. Im Kopf neue Götter, die die Götter der Bauern besiegen.
  • Händler und Handwerker aus den im Südosten entstandenen Reichen, die neben neuen Werkstoffen (Bronze) auch neue Ideen des Zusammenlebens in den immer dichter besiedelten „Meltpot“ anhaltender Migrationen an das westliche Ende der eurasischen Kontinentalmasse brachten. Priester-Herrscher und Kriegerkönige auf dem Rücken erst kooperativer, dann geknechteter Bauern. Schrift, Gesetz und Kalender blieben noch ein Geheimnis Eingeweihter. Feuer, in dem Metall aus Erzgestein ensteht, wird mächtiger als die fruchtbare Erde, so übergibt man nun ihm die Toten.
  • Bedrohliche Wellen von Reitervölkern aus den östlichen Steppengebieten, wo sie das Reiten und Kämpfen auf Pferden lernten und gleich noch Waffen aus neuem, härterem und leichter verfügbarem Material, dem Eisen mitbrachten. Einheimische Adelige lernten von und mischten sich wohl manchmal auch mit ihnen. Die Herren sitzen jetzt hoch zu Pferde.
  • Ums Mittelmeer enstehen die Reiche der Griechen und Römer. Luxusgüter kommen ins Land, man verdient am durchgehenden Handel und im Söldnerdienst, wobei viele die wärmeren und entwickelteren Gebiete im Süden kennenlernen. Nach Raubzügen und zeitweiser Ansiedlung südlich der Alpen werden die Kelten genannten Mitteleuropäer zurückgetrieben und versuchen nun zuhause eine ähnliche, städtische Zivilisation zu errichten, mit erster eigener Münzprägung.
  • Die expansiven Römer brauchen neue Provinzen, erobern Europa bis zu Rhein und Donau, vernichten die gerade entstehende Eigenständigkeit der Gallier, bringen aber auch Recht, Gesetz und die staatliche Verwaltung. Es kommen Römer und Angehörige anderer Ethnien des Reiches, besonders als Soldaten am Limes und Veteranen ins Land, mit neuen Religionen, besonders dem zur Staatsreligion aufsteigenden Christentum.
  • Nach Jahrhunderten entwickeln sich die germanischen Völker Nordeuropas von beinahe weiteren Opfern über Räuber in den zivilisierten Grenzprovinzen zu den Stützen und schließlich Eroberern des dann doch nicht ewigen Imperiums. Ganz Europa wird zu germanischen Königtümern zerhackt (ein unfreiwilliges „back to the roots“), die Reste der zusammenbrechenden Zivilisation flüchten sich unter den Mantel der römischen Kirche.
  • Nach mehreren Anläufen entsteht im Mittelalter wieder ein zeitweise einheitlicher, jetzt christlicher Machtbereich, der Kulturstand der Antike, auf die man sich in der Renaissance und im Klassizismus auch ausdrücklich bezog (“back to the top“?), wurde aber erst sehr spät, allerdings mit neuen Mitteln wieder erreicht.
  • Unterlegene Völker zu erobern und durch Raub oder Handel auszubeuten, wie die Spanier in Südamerika und die anderen atlantischen Nationen, Portugiesen, Holländer, Engländer und Franzosen in Afrika und Asien ist nichts Nues, höchstens der gewaltige Umfang; neu jedoch ist die Rasanz der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die Europa (und sein Auswanderungsgebiet Amerika) bis jetzt zum Brennpunkt der Welt gemacht hat.
  • Eine spezielle europäische Wurzel ist natürlich das Christentum, entstanden mit den beiden anderen monotheistischen Weltreligionen am mediterranen Schnittpunkt etlicher historischer Hochkulturen.
    Im römischen Reich, als Religion für die immer größer werdende Masse der Unterworfenen und Geknechteten zur Bewältigung ihres Schicksals tauglicher als die imperialen heidnischen Kulte, stieg sie vom exotischen Sündenbock zur erhofften Retterin des zerfallenden Staatswesens auf, wurde aber schließlich doch nur das Rettungsboot für das größtenteils untergehende Kulturgut der römischen Welt.
    Von den erobernden Germanen als Banner der Macht überwiegend bereitwillig angenommen, wurde es nach und nach in ganz Europa, im Gleichschritt mit der Errichtung und Ausbreitung eines erneuerten Imperiums aufgepflanzt, aber wohl kaum vor der Reformation inhaltlich ernsthaft betrachtet. In einer radikal kirchenkritischen Schrift des Pietisten Gottfried Arnold (1700) wurden die verfolgten Ketzer als die eigentlichen Träger des Glaubens bezeichnet.
  • Für die heutige Form und Stellung der westlichen Kultur entscheidender ist die, besonders im Kampf gegen das dogmatische Christentum entstandene Geisteswelt der Aufklärung. Sie befreite nicht nur das rationale, naturwissenschaftliche Denken und führte so zum Siegeszug von Wissenschaften und Technik, sondern stellte auch die Rechtfertigung der Knechtung von Menschen durch andere radikal in Frage. Demokratie und Menschenrechte in einem großen Teil der (westlichen und westlich beeinflussten) Welt wären ohne sie nicht existent.
  • Der Slogan “back to the roots” hat auch schon eine längere Geschichte, besonders in der Zeit der europäischen Romantik des 19.Jhdts., in der umfassend als Widerstand (oder Gegengewicht) zur modernen Rationalität uraltes Kulturgut ausgegraben, gesammelt und verherrlicht wurde.

Was sind jetzt die Sackgassen, das unbekannte Gebiet in das sich viele verlaufen haben, feststecken und vielleicht auch noch die Orientierung verloren haben?

Die Geschichte der Menschheit ist eine Abfolge von technischen Erfindungen, die neue Möglichkeiten und Verhältnisse schaffen und den Anstrengungen, sich dem als Einzelperson und Gesellschaft, äußerlich und auch mental anzupassen.

Die Freiheit des Menschen, nicht an ein striktes Verhaltensprogramm gefesselt zu sein, bringt neben ihren gigantischen Möglichkeiten eben auch die Notwendigkeit, ein immer wieder neues Bild der veränderten Welt und seiner selbst zu schaffen, sowie Regeln, um mit den damit verbundenen neu entstandenen Gefahren umzugehen. Das war sicher schon bei sämtlichen vergangenen Umwälzungen ein anstrengender, konfliktreicher und auch schmerzvoller Prozess.
Die heutigen Sackgassen heißen Gefahr der nuklearen Selbstauslöschung der Menschheit, Naturzerstörung und soziale Vereinzelung, da lebendige Gemeinschaft einer Notwendigkeit zu Kooperation bedarf, einer Bedrohung durch Naturgewalten, durch tierische, menschliche oder sonstige Feinde.
Kommen die Menschen in immer kleineren Gruppen oder sogar als Einzelpersonen über die Runden, kann der Egoismus nicht mehr ausreichend überwunden werden.
Sackgassen kommen in der biologischen Evolution auch immer wieder vor, das Leben entwickelt sich am erfolgreicheren Haupt- oder manchmal auch Nebentrieb weiter fort.

Was kann man nun bei Orientierungsproblemen als Hilfe aus der Vergangenheit, den Wurzeln erwarten?

Die großen Erfindungen der Vergangenheit sind heute selbstverständlich, wenn nicht überholt. Tiefes Geheimwissen, das wieder ausgegraben werden könnte, wohl eher ein Wunschtraum. Für eine verlorene Einheit mit der biologischen Natur müsste man bis in die Tierwelt zurück wollen.
Die Probleme der jeweiligen Epochen wünscht auch niemand zurück, wie, als nomadisierender Jäger an ein Stück Land gebunden oder in unwirtliche Gebiete abgedrängt zu werden, als erfolgreicher Bauer ausgeraubt oder geknechtet zu werden, als Mitglied eines Stammesverbandes besiegt und der eigenen Kultur beraubt zu werden, als Bürger einer riesigen Zivilisations- und Kulturzone deren Zertrümmerung zu erleiden, in einem feudalen, absolutistischen Staat, als Untertan geknebelt und gewaltsam als Kanonenfutter rekrutiert zu werden oder als Landenteigneter in Fabriken für den unermesslichen Profit der Geldbesitzer und –händler zu schuften.
Vielleicht hilft die kritische Erkenntnis dieser Vergangenheit des ständigen Wandels, wo neue Technologien das Leben immer angenehmer machen, aber damit verbundene Gefahren es auch immer mehr bedrohen?
Eher schon bleiben die positiven, mentalen Konstruktionen attraktiv, die unkritischen Wunschbilder der jeweiligen technischen und ökonomischen Stufen der Entwicklung:
Der in der natürlichen Umwelt eingebettete Jäger mit immer besseren Waffen, der mit den Geistern der Tiere kommuniziert, der den Geheimnissen der (Nutz-)Pflanzen nachspürende Bauer, der sich selbst mit dem Jahreskreislauf der Vegetation identifiziert, der furchtlose Krieger, Eroberer oder Verteidiger, der sein Leben aufs Spiel setzt, um Schätze zu gewinnen oder zu erhalten, der eifrige Handwerker, der unzählige Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aus vielerlei Materialien gestaltet, der gewiefte Kaufmann, der durch gewagte Unternehmungen gewaltige Vermögen anhäuft, der gute König, der sein Volk vor Schaden bewahrt, der Rebell, der gegen einen ungerechten Herrscher aufsteht, der fromme Mönch, der für die Sünden der Welt Buße tut, der gütige Arzt, der Krankheit und Verletzung heilt, der intuitive Künstler, der in Wort, Ton, Bild und Gestalt auch verborgene Tiefen und Abgründe der menschlichen Seele gewärtig macht und schlussendlich der gewissenhafte Wissenschaftler und Forscher, der immer wieder neue Dimensionen der Materie und des Geistes zum Nutzen aller zugänglich macht.
Dies sind Urbilder des menschlichen Handelns, die in historischen Kostümen gefeiert werden, um bei neuen Herausforderungen wieder angewendet zu werden.

Nur sehr eingeschränkt auf eine dienende und versorgende Rolle kommt die weibliche Hälfte der Menschheit darin vor, außerhalb des Haushaltes sprachlich schon erkenntlich an der angehängten Bezeichnung – deutsch “-in“, „-innen“ – für eine Frau in einem Männerberuf. In der Natur als Träger von Fruchtbarkeit und Zentrum der Gruppenbildung gar nicht marginal, ist die Weiblichkeit in der menschlichen Kultur schon sehr lange auf Jungfrau, Gefährtin des Mannes und Mutter der Kinder (auch) im (herrschaftlichen) Haushalt reduziert oder auf die Verweigerung dieser Rolle als Hexe oder Hure. Wirtschaftlich und politisch kam sie in der Öffentlichkeit einer differenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaft bis vor kurzem kaum vor.
Wollen Frauen Wurzeln einer aktiveren, gleichwertigen Stellung in der Gesellschaft suchen, müssen sie schon sehr weit in die Vergangenheit zurückgehen, in altsteinzeitliche Verhältnisse (z.B. Igbo in Afrika) oder jungsteinzeitliche Gartenbaukulturen (z.B. Minankabao in Indonesien. Siehe: „Matriarchat und Patriarchat“). Sie finden aber diese Wurzeln fast überall gekappt und folgend eine frustrierende Geschichte der Unterdrückung und Entmachtung.

„Back to the roots“ , „living history“, „reenactment“ oder „live action role playing“ als Erlebnisreise in die Vergangenheit bietet sicher neben dem Unterhaltungswert auch einen (allerdings oft ernüchternden) Erkenntnisgewinn für die Gegenwart und somit Hilfe zur Orientierung, aber nur wenn sie auch kritisch beleuchtet wird.


Bernhard Greiner